
„Du hast dich gut gemacht in der Fremde“, sagt ihre Mutter an ihrem 80. Geburtstag zu ihr. Da lebt sie schon fast vierzig Jahre in der „Fremde“. Und das heißt dann wohl: nicht in der Heimat. Die Fremde ist 200 Kilometer von der Heimat entfernt. Diese Fremde ist ihr sehr vertraut. Ihre Freundinnen und Freude leben in dieser Fremde, auch ein paar Familienmitglieder. Sie hatte in der Fremde den besten Oboen-Unterricht aller Zeiten. Sie weiß, wo sie am besten einkaufen geht, hat eine Lieblingsbuchhandlung, sogar einen Lieblingsfriedhof. Das sprachliche Idiom ihrer Herkunftsregion hört man schon lange nicht mehr. Sie aber hört an einzelnen Wendungen, ob jemand in derselben Gegend aufgewachsen ist wie sie selbst. Wenn sie ihre Mutter besucht, sagt sie schon lange nicht mehr „nach Hause fahren“ – nicht nur, weil sie sich woanders zu Hause fühlt, sondern auch, weil sie nach dem Abitur raus wollte aus der Kleinstadt, aus der ländlichen Idylle, aus sozialer Kontrolle, aus dem heimeligen Ambiente, in dem jeder jeden kennt und weiß, was er von Familien und Namen zu halten hat. Sie wollte ein unbeschriebenes Blatt sein, wollte Platz haben um sich herum für Neu-Beschreibungen und für neue Erfahrungen. Dass sie für diese gewonnene Freiheit einen Preis bezahlt, nämlich etwas fremd zu werden in der eigenen Vergangenheit, hat sich so ergeben. Sie bemerkt diesen Preis erst jetzt. Manchmal muss sie lange nachdenken, um eigentümliche Kommunikationen zu entschlüsseln oder die Ursache von Missverständnissen zu erahnen. Und manchmal kostet das Mühe. Meistens aber ist sie dankbar, weil sie weiß: Sie wäre nicht die, die sie ist, wenn sie in der „Heimat“ geblieben wäre.