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Diskriminierung

Deniz Ohde: Streulicht (2020)

Ist das Autobiografische hier nur ein untergründiger Strom? Oder ist es doch eher so wie vor einigen Jahren David Wagner im Hamburger Literaturhaus auf eine Publikumsfrage nach dem autobiografischen Hintergrund seines Romans „Leben“ antwortete: „Für einen schönen Satz habe ich schon mal die Wirklichkeit verändert.“ 2013 erhielt Wagner für dieses Buch den Preis der Leipziger Buchmesse. Anders als bei Wagner steht bei Ohde „Roman“ auf dem Cover. Ein sicheres Indiz, dass der Text kein Roman ist? Oder doch nur, dass der Autorin daran gelegen war, nicht verwechselt zu werden mit ihrer namenlosen Figur, von der man ja immerhin erfährt, dass ihr Name mit langem i falsch ausgesprochen wird. Welche Leserin kombiniert da nicht Denise und Deniz? Aber gut. Es ist ja sowieso kein Ausweis literaturwissenschaftlicher Könnerschaft – diese ewig dumme Frage nach dem Autobiografischen. Ohdes Buch steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Aber welches Buch aus welchen Gründen mit Preisen ausgezeichnet wird, das ist eine andere Debatte. 

Kümmern wir uns also um Form und Inhalt. Und um die Wirkung beim Lesen. Ich jedenfalls wollte nach einem Drittel aufgeben. Die Tristesse drohte mich zu erschlagen, und ich war genervt von blödsinnigen Lehrern (die in solchen Heerscharen zum Klischee verkommen), von einer ichbezogenen Protagonistin, die in ihrer Kindheit und Jugend so viel weiß und ahnt, dass die Leserin ahnt: Hier gibt es eine starke Melange zwischen Autorin und Protagonistin. Ein Interview (im Literarischen Salon Hannover) verstärkte diesen Eindruck: Wenn die Autorin über ihre Protagonistin sprach, dann war kaum eine andere Perspektive möglich als der Blick auf eine Arbeiterschicht-Jugendliche, die immer nur ihr Ausgeschlossen-Sein, ihr Nichtkennen der sozialen Codes, ihr Nicht-Dazugehören thematisiert. Ja, Herrschaft, möchte frau ausrufen, wenn sie Schwäbin wäre: Sind es denn immer nur die anderen? Manchmal hatte ich bei diesem Gespräch im Literarischen Salon das Gefühl, ich müsse den Text in Schutz nehmen vor seiner Autorin. Denn der Text ist ganz so eindimensional dann doch nicht wie das Reden darüber es war. Es gibt sehr berührende Passagen, zum Beispiel die über das Wachsen des sechsten Sinnes, über die Wahrnehmung kleinster atmosphärischer Schwebungen im Zuhause, über vermeintliche Einflussmöglichkeiten auf Wohl und Wehe in diesem Zuhause, das von Alkohol, Tiefkühlpizza, Kristallaschenbechern und zersplitterndem Glas geprägt ist. 

Es ist nicht die Dekadenz bürgerlicher Milieus, wie sie Thomas Mann beschrieben hat. Es ist also vielleicht gut, dass Bücher in den Fokus rücken, die dichte Beschreibungen anderer Milieus vorlegen. Aber all die Ahnungen, die die Protagonistin hat – ich nehme sie ihr einfach nicht ab. Und den vielen Staub, der sich schon nach zwei Wochen in einer dicken Schicht auf der Tischdecke befinden soll, auch nicht. Die Unausweichlichkeit der diskriminierenden Strukturen – kein Ausweg, nirgends.

 

Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht (2018, auf deutsch 2020)

Louis ist 1991 geboren, nur drei Jahre jünger als Deniz Ohde. Der Titel lässt an einen schlechten Krimi bei Bastei Lübbe denken. Aber das ist es nicht. Auch in diesem Buch beschreibt der Ich-Erzähler einen Arbeitervater. Aber er bindet das Arbeiterleben seines Vaters in politische Entscheidungen ein, in manifeste „Demütigungen der Herrschenden“. Und es ist vielleicht die männliche Variante, Diskriminierung zu beschreiben: nicht das Leiden an vielfältigen und leisen Abwertungen, sondern die ganz konkreten Zusammenhänge mit ganz konkreter französischer Politik in den Jahren 2006 bis 2017. Und diese Sicht der Dinge lässt den Vater zwar ein Opfer der Verhältnisse sein, aber nicht im Opferstatus verharren. Das Buch verbindet Einfühlung mit Solidarität, und die Leserin spürt die Ehrfurcht vor einem in Würde gelebten Leben, das traurig endet. Vor allem aber spürt sie: Es gibt einen Draht, einen echten Kontakt zwischen dem Ich-Erzähler, der sich nicht künstlich vom Autor fernhält, und seinem Vater. Denn das Buch ist eine einzige Anrede. Reflektion und Rückblenden sind sprachlich erkennbar. Auch in diesem autobiografisch geprägten Buch, das sich nicht im Wörtchen „Roman“ versteckt, gibt es unausweichliche diskriminierende Strukturen. Aber der letzte Satz des Vaters und des Buches lautet dann doch: „...was es bräuchte, ist eine ordentliche Revolution.“ „Eine ordentliche Revolution“, das wäre übrigens auch ein besserer Titel für dieses Buch gewesen.